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Unter Heiden - Tobias Haberls Abhandlung über den Bedeutungsverlust der Kirche
Auf dem Buchumschlag stehen die treffenden Worte von Florian Illies „Erst ungläubig und dann staunend verfolgt man dieses moderne Glaubensbekenntnis. Tobias Haberl erzählt so pur von seinen Zweifeln und Wegen zu Gott, dass man danach ganz anders in den Himmel schaut.“Um es mit Goethe zu sagen, „das eigentliche und tiefste Thema der Welt- und Menschengeschichte, dem alle übrigen untergeordnet sind, bleibt doch der Konflikt des Glaubens und des Unglaubens.“
Für Goethe würde also die Religion, das heißt das Verhältnis des Menschen zu Gott, von prinzipieller Bedeutung aller Fragen des öffentlichen Lebens und für die gesamte Geschichte der Zivilisation sein. Haberl ist trotz Zweifeln erfüllt von Gott und weis, dass der Mensch nicht allein vom Brot lebt. Der reine Materialismus ist ein Irrweg.
Anfang der 60 Jahre schrieb Thielicke das bemerkenswerte Buch „Leiden an der Kirche“: „Wenn es aber so ist, dass man der Kirche den Abschied gibt, aus den gleichen Gründen, die auch mich an der Kirche leiden lassen – nur dass die "Abtrünnigen" jenes Schmerzliche von außen sehen, während ich beteiligt und als Liebender von innen sehe - muss ich dann nicht öffentlich davon sprechen? Muss ich jenen an der Kirche Irregewordenen und das manchmal Verzweifelten nicht zeigen, dass das, was Ihnen als tot und überlebt erscheint, vielleicht tatsächlich ein Leichnam ist – nur nicht wie sie wähnen, von der Geschichte überholt und zum alten Eisen geworfen, sondern vom Kleinglauben, von Lieblosigkeit und Götzendienst in den eigenen Reihen gemordet? ... Wäre es also nicht die einzig legitime Form, in der man heute so von Leiden an der Kirche spricht?“, so Thielicke. Bei Haberl haben die Zweifel auch nicht die Oberhand bekommen, sondern den Glauben an Gott im Gegenteil vertieft.
„Ich bin gläubiger Christ, ich bin katholisch. Früher war das eine Selbstverständlichkeit, heute muss ich mich dafür rechtfertigen. Wie kann man im 21. Jahrhundert noch an Gott glauben? Und wie kann man immer noch in der Kirche sein - nach allen, was ans Licht gekommen ist?“ „Heute wird ständig darüber diskutiert, wie sich die Kirche verändern muss, um im 21. Jahrhundert anzukommen. Ich drehe die Frage um: Was kann das 21. Jahrhundert von gläubigen Menschen lernen? Wie kann der Glaube eine verunsicherte Gesellschaft von ihrer Angst und Atemlosigkeit befreien? Und was kann uns in einer digital, aber seelisch oft verkümmerten noch Hoffnung geben?“, fragt sich der Autor. Haberl zitiert den Publizist Alexander Kissl. „Die Verkündigung des Evangeliums, die Aufforderung zur Umkehr und die Hoffnung auf das ewige Leben sollten nicht unter den Altartisch fallen. Eine Kirche, die den Himmel vernachlässigt, um nicht als Störfaktor wahrgenommen zu werden, vergisst das Entscheidende.“ Haberl fordert mehr Selbstvertrauen, denn die Virtualität und Strahlkraft einer religiösen Gemeinschaft ist jedoch keine Frage von Mehrheiten, sondern von sichtbar gelebtem Glauben und Selbstvertrauen, mit diesen Überzeugungen sich und andere zu bereichern zu können und nicht Nachhut der Gesellschaft zu sein.
Über all dies schreibt Haberl sehr spannend und anregend und mit viel Herzblut. Er schreibt mit einer Klarheit, die ihresgleichen sucht.
Ist das Buch unparteiisch? Nur die beiden Seiten einer Waage sind unparteiisch. Es ist besser als unparteiisch Es ist ehrlich. Ehrlichkeit gibt diesem Buch die Leichtigkeit selbst schwierige Sachverhalte verständlich darzustellen.
In den zwei Kapiteln über seine katholische Kindheit transportiert der Bericht Atmosphäre in des Wortes wahrster Bedeutung. Er macht uns mit Künstlern bekannt, die aus einer anderen Welt zu kommen scheinen und in ihren Werken den Menschen Glauben, Liebe und Hoffnung geben. Er ist dafür, dass bei uns in den Kirchen wieder mehr über Gott gesprochen wird. Dies wird von vielen gefordert. Sein Journalistenkollege Dirk Schümer lässt in seinem Vorrenaissance-Roman seinen Protagonisten sagen: „Sobald diese (verweltlichten) Theologen aufhören, nach Gott zu fragen, werden sie endlich die korrekte Antwort erhalten - sein Schweigen.“
„Ich bin weder Traditionalist noch Reformer, gehöre keinem Lager an … und bin mindestens so zerrissen wie meine Kirche, weil ich auf beiden Seiten Gutes und Schlechtes entdecke.“ meint der Autor. Vor 40 Jahren lautete der Werbeslogan des Hamburger Sonntagsblattes „Wir sitzen zwischen allen Stühlen“.
Auch Tobias Haberl sitzt zwischen allen Stühlen. Er lässt sich nicht aufreiben und pflegt alte Tugenden wie Ruhe und Gelassenheit. Darin haben ihn auch Aufenthalte in einem Kloster bestärkt, von dem er in Kapitel 8 berichtet. Solange bei uns die Mitte in der Gesellschaft kleiner wird und die Kirche schwächelt, werden sich die Fronten in unserer Gesellschaft weiter verhärten. Das ist um so verhängnisvoller, da ein allgemeines Bedürfnis nach Glaubwürdigkeit und Orientierung besteht.
Haberl deutet Lösungen an, die unumgänglich sind, wenn die Kirche sich nicht in Nischen verstecken, sondern wieder die Vorhut der Gesellschaft werden soll. Zu hoffen und zu wünschen ist, dass viele Habers Weckruf mit Gewinn lesen.
Eckhard Krause
Tobias Haberl, "Unter Heiden"
btb Verlag, München
288 Seiten
22 EUR
Erscheinungstermin: 2. Oktober 2024
ISBN: 978-3-442-76287-3
Eckhard Krause ist Laimer Diplom-Bibliothekar im Ruhestand und Laimer Bücherwurm. Geboren in Sachsen und aufgewachsen in Ostfriesland, kam er in Zeiten des kalten Krieges nach Westdeutschland und lebt nunmehr seit fast 50 Jahren in Laim. Aufmerksam beobachtet er Entwicklungen und Strömungen in Gesellschaft und Literatur.
Eingetragen am 08.11.2024
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